Wer im Himmel auf dich wartet: Roman

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Overview

Ein spiritueller Pageturner!
Annie und ihre Jugendliebe Paulo wollen ihre Hochzeitsreise mit einem romantischen Ballonflug krönen. Doch der Ballon stürzt ab... 
Annie erwacht im Himmel wieder und sucht nach Paulo, von dem sie nicht weiß, ob er überlebt hat. Nacheinander trifft sie dort auf Menschen, die ihr seltsam bekannt und sogar vertraut vorkommen. Doch erst durch ihre Geschichten erfährt Annie, was für eine wichtige Rolle jeder einzelne von ihnen in ihrem Leben gespielt hat - und wie wenig ihr das bewusst war. Am spannenden Ende - mit einer überraschenden Wendung - realisiert sie deren Wert und auch, wie sehr jedes einzelne menschliche Leben zählt. 
Wieder gelingt es dem Autor in seinem unverwechselbaren Stil, seine Leser in eine Welt zu entführen, in der die Grenzen zwischen Himmel und Erde fließend werden und wo in jedem Ende ein Anfang liegt.


Product Details

ISBN-13: 9783843721004
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 09/27/2019
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 224
File size: 978 KB
Language: German

About the Author

About The Author
Mitch Albom, Jg. 1958, schrieb den Weltbestseller Dienstags bei Morrie (1997). Das Buch verkaufte sich außergewöhnlich gut, nachdem es von Oprah Winfrey in Oprah's Book Club vorgestellt worden war. Die Fernsehverfilmung mit Hank Azaria und Jack Lemmon war der meistgesehene Fernsehfilm 1999 in den USA. Sein Roman Die fünf Menschen, die dir im Himmel begegnen (2005) war ebenfalls ein New York Times-Bestseller. Auch dieser Roman wurde für das US-Fernsehen verfilmt, mit Jon Voight in der Hauptrolle..  Mitch Albom tritt regelmäßig in den Fernsehsendungen auf. Seine eigene Radioshow wird in Detroit ausgestrahlt. Albom ist neben Stephen King Mitglied der Rockband The Rock Bottom Remainders, deren Musiker allesamt Schriftsteller sind. Bevor er Journalist wurde, war er als Amateurboxer, Nachtclubsänger und Pianist tätig. 2011 wurde er mit der Ehrendoktorwürde der Michigan State University ausgezeichnet.

Mitch Albom, Jg. 1958, schrieb den Weltbestseller  Dienstags bei Morrie (1997). Das Buch verkaufte sich außergewöhnlich gut, nachdem es von Oprah Winfrey in  Oprah’s Book Club vorgestellt worden war. Die Fernsehverfilmung mit Hank Azaria und Jack Lemmon war der meistgesehene Fernsehfilm 1999 in den USA.
Sein Roman  Die fünf Menschen, die dir im Himmel begegnen (2005) war ebenfalls ein New York Times-Bestseller. Auch dieser Roman wurde für das US-Fernsehen verfilmt, mit Jon Voight in der Hauptrolle.
Mitch Albom tritt regelmäßig in Fernsehsendungen auf. Seine eigene Radioshow wird in Detroit ausgestrahlt. Albom ist neben Stephen King Mitglied der Rockband The Rock Bottom Remainders, deren Musiker allesamt Schriftsteller sind. Bevor er Journalist wurde, war er als Amateurboxer, Nachtclubsänger und Pianist tätig. 2011 wurde er mit der Ehrendoktorwürde der Michigan State University ausgezeichnet.
Mitch Albom gründete verschiedene Hilfsorganisationen in seiner Heimatstadt Detroit und weltweit, so nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti 2010 die  Have Faith Haiti Mission.


Jochen Winter, geboren 1957 in Schwetzingen/Baden, ist ein deutscher Lyriker, Essayist und Übersetzer. Er ist korrespondierendes Mitglied der Académie Européenne de Poésie in Luxemburg. Winter lebt in Paris, Deutschland und Sant’ Alfio auf Sizilien. Er erhielt das Jahresstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung, den Ernst-Meister-Preis für Lyrik und 2017 den Literaturpreis der A und A Kulturstiftung.

Hometown:

Franklin, Michigan

Date of Birth:

May 23, 1958

Place of Birth:

Passaic, New Jersey

Education:

B.A., Brandeis University, 1979; M.J., Columbia University, 1981; M.B.A., Columbia University, 1982

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Das Ende

Dies ist die Geschichte über eine Frau namens Annie, und sie beginnt am Ende, wenn Annie vom Himmel fällt. Da sie jung war, dachte Annie nie an Dinge, die enden, noch an den Himmel. Aber jedes Ende ist auch ein Anfang.

Und der Himmel denkt immer an uns.

* * *

Zum Zeitpunkt ihres Todes war Annie groß und schlank, mit langen goldblonden Locken, hervorstehenden Ellbogen und Schultern und einer Haut, die sich am Hals rötete, wenn sie verlegen war. Sie hatte feurige Augen in hellem Olivton sowie ein weiches, ovales Gesicht, das Kollegen als »hübsch« bezeichneten, »sobald man sie näher kennenlernt«.

Als Pflegerin in einem nahe gelegenen Krankenhaus trug Annie blaue Arbeitskleidung und graue Laufschuhe. Und in ebenjenem Krankenhaus geschah es, dass sie die hiesige Welt verließ – nach einem dramatischen wie tragischen Unfall, nur einen Monat vor ihrem einunddreißigsten Geburtstag.

Man mag sagen, das sei »zu jung«, um zu sterben. Aber was ist zu jung für ein Leben? Als Kind war Annie einmal vom Tod verschont geblieben, bei einem anderen Unfall an einem Ort namens Ruby Pier, dem Vergnügungspark am großen grauen Meer. Einige meinten, ihr Überleben sei »ein Wunder« gewesen.

Daher war sie vielleicht schon älter, als sie hätte sein sollen.

* * *

»Wir sind heute hier versammelt ...«

Wenn Sie wüssten, dass Sie bald sterben, wie würden Sie dann Ihre letzten Stunden verbringen? Annie, die es nicht wusste, verbrachte die ihren damit, dass sie heiratete.

Ihr Verlobter hieß Paulo. Er hatte blassblaue Augen von der Farbe flachen Tümpelwassers und einen dichten Schopf aus rosinenschwarzem Haar. Sie war ihm an der Grundschule begegnet, beim Bockspringen auf einem asphaltierten Spielplatz. Annie war eine neue Schülerin, scheu und verschlossen. Als sie die Arme über dem gebeugten Kopf verschränkte, sagte sie sich immer wieder: Könnte ich mich doch bloß in Luft auflösen.

Dann drückten die Hände eines Jungen auf ihre Schultern, und wie ein abgeworfenes Paket landete er vor ihr.

»Hallo, ich bin Paulo«, sagte er lächelnd, wobei ihm eine Stirnlocke über die Braue fiel.

Plötzlich wollte Annie nirgendwohin gehen.

* * *

»Willst du, Annie, diesen Mann zu deinem ...«

Mit noch vierzehn Stunden Lebenszeit legte Annie ihr Ehegelübde ab. Sie und Paulo standen unter einem Baldachin an einem See, dessen Ufer mit Heidelbeersträuchern gesäumt war. Beide hatten sich als Teenager aus den Augen verloren und waren erst kürzlich wieder zusammengekommen. Die Jahre dazwischen gestalteten sich für Annie schwierig. Sie ertrug unglückliche Beziehungen und litt unter vielerlei Verlusten, bis sie schließlich zu der Überzeugung gelangte, niemals mehr einen Mann zu lieben und ganz gewiss niemals zu heiraten.

Aber da standen sie nun. Annie und Paulo. Sie nickten dem Pastor zu. Sie nahmen sich an der Hand. Annie trug Weiß, Paulo Schwarz, und beider Haut war gebräunt von den Stunden in der Sonne. Als sie sich zur Seite drehte, um ihrem künftigen Ehemann in die Augen zu sehen, fiel ihr Blick auf einen Heißluftballon, der über dem Sonnenuntergang schwebte. Wie entzückend, dachte sie.

Dann nahm sie Paulos Grinsen wahr, so breit wie der Horizont. Während er sich abmühte, ihr den Ring über den Finger zu streifen, war nervöses Gelächter zu hören. Kaum hatte sie den Finger triumphierend in die Höhe gereckt, rief jeder: »Herzlichen Glückwunsch!«

* * *

Es blieben dreizehn Stunden, um zu leben. Arm in Arm schlenderten sie den Gang hinunter, ein frisch vermähltes Paar, das über alle Zeit der Welt verfügte. Als Annie sich die Tränen wegwischte, sah sie in der letzten Reihe einen alten Mann mit Schiebermütze sitzen, ein Schmunzeln um die vorspringende Kinnlade. Sie hatte das Gefühl, ihn zu kennen.

* * *

»Paulo«, flüsterte sie, »wer ist dieser Mann?«

Doch sie wurden unterbrochen. »Du siehst so wunderschön aus!«, sagte eine halbwüchsige Cousine mit Zahnspange. Annie lächelte und erwiderte leise »Danke!«

Als sie zurückschaute, war der alte Mann verschwunden.

* * *

Es blieben zwölf Stunden. Annie und Paulo betraten die Tanzfläche, über die Drähte mit weißen Glühbirnen gespannt waren. Paulo hob einen Arm und fragte: »Bist du bereit?« Annie erinnerte sich an jenen Abend in einer Turnhalle der Junior High School, als sie auf Paulo zuging und sagte: »Du bist der einzige Junge, der mit mir spricht, also sag mir auf der Stelle, ob du mit mir tanzen willst, ja oder nein, denn sonst geh ich nach Hause und seh fern.«

Damals hatte er sie angelächelt, wie er es auch jetzt tat, und aufs Neue fanden sie zueinander wie Puzzleteile. Ein Fotograf sprang herbei und rief: »Schaut hierher, glückliche Eheleute!«, und instinktiv versteckte Annie ihre ein wenig kleinere linke Hand hinter Paulos Rücken – die Hand, die noch immer Narben trug von dem Unfall vor mehr als zwanzig Jahren.

»Wunderbar!«, sagte der Fotograf.

* * *

Noch elf Stunden. Annie lehnte sich an Paulos Arm und ließ den Blick durch den Saal schweifen. Das Fest wurde ruhiger. Tortenstücke waren halb aufgegessen und die hochhackigen Schuhe der Frauen unter den Tischen abgestreift worden. Es handelte sich um eine eher bescheidene Feier – Annies Familie war nicht groß –, und sie hatte mit fast allen Gästen geplaudert, von denen viele förmlich hervorsprudelten: »Sehen wir uns doch öfter!«

Paulo wandte sich Annie zu und sagte: »Hey, ich hab was für dich gemacht.« Annie lächelte. Immerzu fertigte er kleine Geschenke für sie: Holzfiguren, einfache Schmuckgegenstände. In Italien, wohin seine Familie mit ihm als Teenager gezogen war, hatte er schnitzen und malern gelernt. Damals dachte Annie, dass sie Paulo nie wiedersehen würde. Doch Jahre später kam sie während ihrer Pflegetätigkeit an einem Krankenhaustrakt vorbei, der gerade umgebaut wurde, und da stand er, ein Schreiner.

»Hey, ich kenne dich«, sagte er. »Du bist Annie!«

Zehn Monate danach waren sie verlobt.

Anfangs war Annie glücklich. Aber als die Hochzeit näher rückte, wurde sie ängstlicher und zunehmend um den Schlaf gebracht. »Wann immer ich etwas plane, geht's schief«, sagte sie zu Paulo. Er legte ihr den Arm um die Schultern und erinnerte sie daran, dass sie an jenem Tag im Krankenhaus doch nicht »geplant« habe, ihm zu begegnen, stimmt's?

Annie zog die Augenbrauen hoch. »Wie willst du das wissen?«

Paulo lachte. »Das ist die Annie, die ich heiraten werde!«

Aber ihre Sorge blieb.

* * *

»Hier«, sagte Paulo jetzt und reichte ihr ein kleines, gelbes, drahtiges Gebilde, weich und flauschig, mit ovalen Ohren oben und ovalen Füßen unten.

»Ein Hase?«, fragte sie.

»Hmm.«

»Aus Pfeifenreinigern?«

»Genau.«

»Wo hast du den her?«

»Ich hab ihn gemacht. Warum?«

Annie trat von einem Fuß auf den anderen und fühlte sich plötzlich unwohl. Sie schaute über den Boden und sah den alten Mann von vorher. Sein Kinn war übersät mit langen weißen Bartstoppeln, sein Anzug seit dreißig Jahren aus der Mode. Aber gerade seine Haut erregte Annies Aufmerksamkeit; sie schien merkwürdig, fast leuchtend.

Woher kenne ich diesen Mann?

»Magst du ihn nicht?«

Annie blinzelte. »Wen?«

»Deinen Hasen.«

»Oh, ich liebe ihn. Wirklich.«

»Wirklich«, wiederholte Paulo, als würde er nachdenken. »Heute sagen wir oft ›wirklich‹.«

Annie lächelte und strich über das kleine Gebilde. Doch ein kalter Strahl schoss ihr durch den Körper.

* * *

Ein Hase aus Pfeifenreinigern – wie der, den Paulo gefertigt hatte – war in Annies Händen gewesen am Tag des verhängnisvollen Unfalls; ein Geschenk jenes alten Mannes, den sie nun bei ihrer Hochzeit sah.

Ein Mann, der vor mehr als zwanzig Jahren gestorben war.

Sein Name war Eddie. Er hatte im Vergnügungspark Ruby Pier gearbeitet und Fahrgeschäfte repariert – Schienen eingefettet, Schrauben festgezogen und endlose Wege zwischen den Attraktionen zurückgelegt, um zu erfahren, wo es technische Probleme gab. In der Tasche seines Arbeitskittels bewahrte er Pfeifenreiniger auf, um daraus Spielzeugfiguren für die jüngeren Kunden zu basteln.

Am Tag des Unfalls war Annie alleingelassen worden von ihrer Mutter, die sich mit ihrem aktuellen Freund davongemacht hatte. Eddie blickte gerade hinaus aufs Meer, als Annie sich näherte, bekleidet mit abgeschnittenen Jeansshorts und lindgrünem T-Shirt, auf dessen Vorderseite eine Cartoon-Ente prangte.

»'tschuuuldigung, Eddie Wartung«, sagte sie, die Bezeichnung auf der Applikation seines Arbeitskittels lesend.

»Einfach Eddie«, seufzte er.

»Eddie?«

»Hmm.«

»Kannst du mir ...«

Sie legte ihre Handflächen aneinander, als würde sie beten.

»Komm schon, Kleine. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Kannst du mir ein Tier basteln? Kannst du das

Eddie hob neckisch den Blick, als müsste er darüber nachdenken. Dann nahm er seine gelben Pfeifenreiniger hervor und bastelte ihr einen Hasen – genau wie jener, den Paulo ihr soeben überreicht hatte.

»Daaaaanke!«, sagte sie und tänzelte davon.

Zwölf Minuten später war Eddie tot.

* * *

Der tödliche Unfall ereignete sich, als sich am Freifallturm namens Freddy's Free Fall eine Kabine während der Fahrt aus der Verankerung löste. Sechzig Meter über dem Erdboden wurde sie von einem Sicherheitsseil aufgefangen und baumelte in der Luft wie ein sterbendes Blatt. Eddie, der die Szene von unten mitverfolgte, sah, dass das Seil an einer Kante scheuerte. Falls es riss, würde die Kabine in die Tiefe stürzen.

»ZURÜCKTRETEN!«, schrie er.

Die Menge stob auseinander.

Doch im allgemeinen Chaos rannte Annie in die falsche Richtung und kauerte sich direkt neben dem Turm nieder, zu verängstigt, um sich vom Fleck zu rühren. Das Seil riss. Die Kabine stürzte herab. Sie hätte Annie zerschmettert, wäre Eddie nicht in letzter Sekunde über die Plattform gehechtet, um das Mädchen zur Seite zu stoßen. So prallte die Kabine mit voller Wucht auf ihn.

Das kostete ihn das Leben.

Aber auch Annie wurde etwas genommen: die linke Hand. Ein durch den Aufprall abgebrochenes Metallstück hatte sie säuberlich vom Knochen abgetrennt. Mehrere geistesgegenwärtige Arbeiter legten das blutige Körperglied auf Eis, und Sanitäter fuhren Annie rasch zum Krankenhaus. Dort waren Chirurgen vier Stunden lang damit beschäftigt, Sehnen, Nerven und Arterien zusammenzufügen, Haut zu transplantieren sowie mit Hilfe von Platten und Schrauben die Hand wieder mit dem Gelenk zu verbinden.

Der Unfall machte Schlagzeilen im ganzen Bundesstaat. Journalisten bezeichneten Annies Überleben als »kleines Wunder von Ruby Pier«. Fremde beteten für sie. Einige wollten ihr sogar begegnen, als hütete sie aufgrund ihrer Rettung das Geheimnis der Unsterblichkeit.

Annie, erst acht Jahre alt, erinnerte sich jedoch an fast nichts. Der erlittene Schock verwischte die Spuren im Gedächtnis, so wie starker Wind eine Flamme auslöscht. Bis zum heutigen Tag entsann sie sich nur bruchstückhafter Bilder und aufzuckender Blitze, eines diffusen Gefühls, unbekümmert nach Ruby Pier gegangen und deutlich verändert nach Hause zurückgekehrt zu sein. Die Ärzte verwendeten Begriffe wie bewusste Verdrängung und traumatische Störung, nicht wissend, dass bestimmte Erinnerungen für diese Welt vorgesehen sind, manche hingegen erst in der nächsten zum Vorschein kommen.

Jedenfalls war ein Leben gegen ein anderes eingetauscht worden.

Und immer wacht der Himmel über allem.

* * *

»Viel Glück! ... Gott segne euch!«

Mit Reiskörnern aus Pappbechern beworfen, trippelten Annie und Paulo zu der wartenden Limousine. Er öffnete die Tür, Annie schlüpfte ins Wageninnere und zog die Schleppe hinter sich her.

»Hurra!«, sagte Paulo lachend und schwang sich neben sie.

Der Fahrer drehte sich um. Er war schnurrbärtig, hatte braune Augen und von Tabak gefleckte Zähne.

»Gratulation, Leute!«

»Danke!«, antworteten beide gleichzeitig.

Annie hörte ein Klopfen an der Scheibe; ihr Onkel Dennis, Zigarre im Mund, blickte sie von oben an.

»Okay, ihr zwei«, sagte er, als Annie das Fenster herunterließ. »Seid brav. Seid vorsichtig. Seid glücklich.«

»Alle drei schaffen wir nicht«, erwiderte Paulo.

Dennis lachte. »Dann seid einfach glücklich.«

Er ergriff Annies Finger, und sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Dennis war der Bruder ihrer Mutter und ein angesehener Chirurg in dem Krankenhaus, wo Annie arbeitete. Nach Paulo war er ihr bevorzugter Mann in dieser Welt. Kahlköpfig, dickbäuchig und mit einem Hang zum ungezwungenen Lachen hatte er sich für sie stets eher wie ein Vater angefühlt als ihr leiblicher Vater namens Jerry (ihre Mutter nannte ihn »Jerry the Jerk«, Jerry, der Trottel), der in Annies frühen Jahren die Familie verlassen hatte.

»Danke, Onkel Dennis.«

»Wofür?«

»Für alles.«

»Deine Mutter hätte das hier geliebt.«

»Ich weiß.«

»Sie schaut zu.«

»Meinst du?«

»Ja.« Er lächelte. »Annie. Du bist verheiratet.«

»Ich bin verheiratet.«

Er tätschelte ihr leicht den Kopf.

»Ein neues Leben, Kind.«

Es blieben zehn Stunden.

* * *

Keine Geschichte ist losgelöst von der anderen. Unsere Leben verbinden sich wie Fäden auf dem Webstuhl, sind zu vielfältigen Mustern verwoben, die wir niemals erkennen können.

Zur gleichen Zeit, als Annie und Paulo auf ihrer Hochzeit tanzten, wollte gut sechzig Kilometer entfernt ein Mann namens Tolbert gerade nach seinen Schlüsseln greifen. Da fiel ihm ein, dass der Tank seines Lastwagens nahezu leer war, und in der Gewissheit, zu später Stunde kaum eine offene Tankstelle zu finden, nahm er stattdessen die Schlüssel für das Auto seiner Frau – ein kleines, kastenartiges Fahrzeug, bei dem ein Reifen zu wenig Luft hatte. Er verließ das Haus, ohne die Tür zu verschließen, und blickte kurz zu den Wolken auf, die den Mond in graue Schleier hüllten.

Hätte er den Lastwagen benutzt, würde diese Geschichte anders ausgehen. Hätten Annie und Paulo unterwegs nicht noch einmal angehalten, wäre diese Geschichte eine andere. Hätte der Fahrer der Limousine nicht vergessen, eine Tasche mitzubringen, die vor seiner Wohnungstür stand, nähme diese Geschichte einen anderen Verlauf. Die Geschichte eines Lebens wird von Sekunde zu Sekunde fortgeschrieben und wechselt ebenso schnell wie die Position des Radiergummis auf einem Bleistift, den man zwischen den Fingern um die eigene Achse dreht, der etwas notiert und im nächsten Augenblick auslöscht.

* * *

»But we're gonna get maaaaa-rried!«, sang Paulo, und Annie lachte, da er sich an die folgenden Textzeilen nicht mehr erinnern konnte. Sie kehrte ihm den Rücken zu und zog an seinen Armen, damit er sie fest umfasste. Es gibt Berührungen, an denen man eine Person selbst bei geschlossenen Augen erkennt. Für Annie waren es Paulos Hände auf ihren Schultern, wo sie schon beim Bockspringen vor vielen Jahren zugedrückt hatten.

Und genau an dieser Stelle lagen sie jetzt.

Annie sah seinen goldenen Ehering. Sie stieß einen tiefen, zufriedenen Seufzer aus. Beide hatten es geschafft. Sie waren verheiratet. Sie brauchte sich keine Sorgen mehr zu machen, dass ein unvorhergesehenes Ereignis alles zum Scheitern bringen könnte.

»Ich bin wirklich glücklich«, sagte Annie.

»Ich auch«, erwiderte Paulo.

Die Limousine fuhr los. Annie winkte durchs Fenster, während die Gäste klatschten und den Daumen nach oben reckten. Der Letzte, den sie erspähte, war der alte Mann mit der Schiebermütze, der fast mechanisch zurückwinkte.

* * *

Jeder kennt den Ausdruck »Himmel auf Erden«. Er weist auf etwas Wunderbares hin, etwa bei der überschwänglichen Verabschiedung eines Brautpaares nach der Hochzeit. Doch er kann auch eine andere Bedeutung haben, die Annie jetzt in den Sinn kam, als der alte Mann – Eddie aus dem Vergnügungspark Ruby Pier – ihren Blicken entschwand.

In bestimmten Momenten, wenn der Tod nahe ist, heben sich die Schleier zwischen dieser Welt und der nächsten. Himmel und Erde überlagern sich. Wenn das geschieht, ist es möglich, gewisse bereits entschlafene Seelen flüchtig wahrzunehmen.

Man kann sehen, wie sie unsere Ankunft erwarten.

Und sie sind imstande, uns kommen zu sehen.

* * *

Noch neun Stunden. Die Nacht war dunstig, und es begann zu regnen. Der Fahrer schaltete die Scheibenwischer ein. Während sie hin und her schlugen, dachte Annie daran, was bevorstand. Zuerst ihre Flitterwochen, eine seit Langem geplante Reise nach Alaska, um die Nordlichter zu sehen. Paulo war von ihnen regelrecht besessen. Er hatte ihr Hunderte von Fotografien gezeigt und sie neckend einer Prüfung über die Entstehung jener Lichter unterzogen.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Annie, als hätte sie den Text auswendig gelernt. »Von der Sonne schießen Partikel ins All und wehen zur Erde. Es dauert zwei Tage, bis sie unseren Planeten erreichen. Sie durchdringen die Atmosphäre dort, wo diese extrem dünn und empfindlich ist, am ...«

» ... oberen Ende der Welt«, pflegte Paulo zu ergänzen.

» ... oberen Ende der Welt«, wiederholte Annie.

»Sehr gut. Du hast bestanden.«

(Continues…)


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